Sonntag, 15. September 2024

Europa, wach auf aus deinem Dornröschenschlaf

„Europas wirtschaftliche Unabhängigkeit ist keine Frage der Bequemlichkeit, sondern auch der Sicherheit.“ Ein Kommentar von „Dolomiten“-Redakteur Josef Bertignoll.

Josef Bertignoll: „Europas wirtschaftliche Unabhängigkeit ist keine Frage der Bequemlichkeit.“ - Foto: © ukn

Ganze 800 Milliarden Euro soll die Europäische Union jährlich investieren, um wieder produktiver und wettbewerbsfähiger zu werden. Andernfalls droht Europa im globalen Wettbewerb zwischen den USA und China endgültig abgehängt zu werden. Das fordert Ex-EZB-Chef Mario Draghi in seinem Bericht zur EU-Wettbewerbsfähigkeit, den er diese Woche in Brüssel vorgelegt hat.

Seine Botschaft gleicht einer schallenden Ohrfeige an die EU-Kommission, weil sie schmerzhaft vor Augen führt, wie sehr die EU im internationalen Wettbewerb verschlafen hat. Bleibt die EU im Dornröschenschlaf, hat das Folgen: Wer den Anschluss verliert, der macht sich wirtschaftlich abhängig und politisch schwach.

Deutlich wird die Abhängigkeit im Bereich der Chipproduktion – der Schlüsseltechnologie schlechthin. Ohne Chip funktioniert heutzutage gar nichts: Kein Smartphone, kein Auto – nicht mal der Reisepass. Und wer stellt die Mikrochips her? Samsung aus Südkorea, TSMC aus Taiwan, Intel und Nvidia aus den USA.

Dass man sich mit wirtschaftlicher Abhängigkeit politisch angreifbar macht, wurde nirgendwo anders so deutlich wie nach Ausbruch des Ukrainekrieges.
Josef Bertignoll, Redakteur


Unter den 10 umsatzstärksten Halbleiterproduzenten befindet sich nur ein europäischer Mitstreiter, nämlich die niederländische ASML. Wenn es um Künstliche Intelligenz geht, sieht es nicht anders aus: Während die ganze Welt im rasanten Wettlauf nach vorn stürmt, scheint die EU gemütlich auf der Tribüne zu sitzen und zuzusehen, wie andere Nationen das Spielfeld dominieren.

Auch im Bereich der grünen Technologien – unverzichtbar für die Energiewende – offenbart sich eine alarmierende Abhängigkeit von China. Die Volksrepublik kontrolliert den Markt für Lithium-Ionen-Batterien, die das Herzstück von Elektro- und Hybridfahrzeugen bilden. Europas E-Mobilität hängt im Grunde am Tropf Chinas. Solange die EU von chinesischen Lieferungen abhängig ist, hält Peking den Schlüssel zur europäischen Energiewende in der Hand – eine Machtposition, die leicht in politisches Druckmittel verwandelt werden kann.

Dass man sich mit wirtschaftlicher Abhängigkeit politisch angreifbar macht, wurde nirgendwo anders so deutlich wie nach Ausbruch des Ukrainekrieges. Jahrzehntelang wurde Erdgas als Hauptquelle der Energieversorgung ausgebaut. Das stellte sich jedoch als strategischer Fehler heraus, als Russland begann, Energie als politisches Druckmittel einzusetzen. Drohende Engpässe und steigende Gaspreise verdeutlichten die Verwundbarkeit der EU und ermöglichten es den Staatsmännern und -Frauen, kein komplettes Embargo gegen Russland zu beschließen.

Draghis Bericht muss als Weckruf verstanden werden: Europas wirtschaftliche Unabhängigkeit ist keine Frage der Bequemlichkeit, sondern auch der Sicherheit. Sonst sind wir sowohl wirtschaftlich als auch politisch gelähmt.

josef.bertignoll@athesia.it

stol

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